Ich scheitere am Fliegen – Heiter scheitern

Eines möchte ich verstehen: Warum sind öffentliche Verkehrsmittel öffentlich und warum meinen viele der Mitreisenden ihre Persönlichkeit entfalten zu dürfen, ohne jedoch auf andere im selben Verkehrsmittel Eingesperrte Rücksicht nehmen zu müssen?

Es ist viertel vor sechs an einem herbstlichen Tag, draußen ist es um die 5° Celsius, der Nebel lässt alles klamm werden. Ich steige in den Flieger nach München, Gott sei Dank geht es heute Abend wieder zurück.

Als ich zu meinem Gangplatz komme, sitzt dort schon ein gut gekleideter Herr, etwas extrovertiert angezogen und bedüftelt. Vermutlich ein Vertriebsmitarbeiter eines hiesigen Mittelständlers.

Als ich mich setzen will, bemerke ich einen Rimova-Aktenkoffer vor meinen Füßen unter meinem Sitzplatz. Es stellt sich raus, dass er dem Herrn gehört. Meine Bitte, den Koffer unter seinen Sitz zu bugsieren, lehnt er mit dem Hinweis ab, dass er seine Füße dann nicht mehr ausstrecken kann. Meinen Einwand, dass ich so meine Füße nicht ausstrecken kann, lässt er nicht gelten.

Ein kurzer Austausch von „Sie müssen“, „ich muss nicht“ lockt die Stewardess heran, die sich von dem Herrn das Problem erklären lässt, daraufhin den Aktenkoffer mit nach vorne in die Garderobe nimmt und ihm mehrfach versichern muss, der Koffer sei bei ihr in besten Händen.

Das wäre geklärt. Ich mache es mir gemütlich und der Herr fängt an mich auszufragen. Ich frage der Höflichkeit halber zurück und bekomme ähnlich wie in Herakles‘ Kampf mit der Hydra für eine Frage 10 Rückfragen. Ich bin zu müde und uninteressiert, außerdem bemerke ich dicht unter dem intensiven Rasierwassergeruch des Herren eine Spur Weinbrand, die sich mit jedem Satz immer deutlicher mit dem Rasierwasser konkurrieren kann. Ich schätze, das war mindestens ein Doppelter zum Frühstück. Nicht preiswertes Scharfes, nein der Herr hat Geschmack und das nötige Kleingeld. Ich tippe auf Club de Rémy Martin, nicht VSOP, es ist Club.

Nun ist aber gut, ich beende das Gespräch höflich mit Hinweis auf meine Kopfhörer, die ich dabei aufsetze und entscheide mich für „Be Brave“ als Soundtrack für den Beginn der Reise.

Der Tag in München verlief dann ganz erfolgreich, aber es drohte erneutes Unheil, als es am späteren Abend zurück zum Flughafen ging, um auf den Zehn-Uhr-Flieger zu warten.

Leider zeigt das Smartphone eine Verspätung von 20 Minuten an, die sich auf 40 Minuten ausweiten werden. Es geht mit dem Bus zum Flugzeug, draußen trifft man auf 15° Celsius gepaart mit intensivem Nieselregen. Diesmal sitze ich schon, bevor mein Sitznachbar kommt.

Ein Mann geht im Gang an mir vorbei, um sich dann umzudrehen und umständlich sein Gepäck über meinem Kopf in die Ablage zu bugsieren. Das für sich genommen ist schon merkwürdig. Als er mit dem Bugsieren fertig ist, spricht er mich an, deutet auf den leeren Fensterplatz neben mir und sagt, das sei sein Platz. Die Ansprache kommt in der Form von drei Aufforderungen stakkato-artig in kurzer Folge vorgebracht. Ich soll ihn nun endlich auf seinen Platz lassen.

Ich spreche ihn mit „Guter Mann“ an und sage ihm, dass ich das gerne tun würde, aber er es verhindert hat, indem er einen Platz zu weit gegangen ist und nun die anderen Passagiere im Gang jegliches Aufstehen unmöglich machen. Daraufhin beschimpft er den hinter ihm im Gang stehenden Menschen, wieder mit dreifach wiederholter Ansprache. Ich vermute, er hält seine Vorgehensweise für angemessen, für mich ein Nachweis, dass der Dunning-Kruger-Effekt auch auf den alleruntersten Intelligenzstufen existiert.

Da nun sehr viele Leute ins Flugzeug drängen, staut es im Gang sehr stark und es beginnt eine akrobatische Kletterei um meinen zukünftigen Sitznachbarn herum. Auch scheinen viele nachrückende Leute seine Intention nicht zu verstehen und lassen keinen Platz. Irgendwann kann ich aufstehen, er zirkelt noch um einen Passagier herum, dann sitzt er. Ich entschuldige mich bei den Wartenden mit einem Achselzucken.

Ich bin froh, bei der Gepäckbugsiererei keinen seiner Koffer abbekommen zu haben, packe die Kopfhörer aus und der Player startet „Going Under“.

Am Zielort angekommen bin ich froh, ganz vorne zu sitzen und schnell raus zu kommen. Jetzt schnell Parkzettel bezahlen, Auto starten und Anlage an. Als ich auf die B1 einbiege, drücke ich das Gaspedal einmal weit durch. Ich gewinne Abstand, schnell sind die Paderborner Taxis zu Stelle und geben Geleit. Es ist nach zwölf ich bin auf dem Weg nach Hause. „We’re up all night to get lucky“.

Von Werner in der Reihe „Heiter scheitern„.

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